Hier - oder ganz in der Nähe - muß es wohl sein, wo man Kinderherzen besonders laut schlagen hört. Wo die Wangen der Kleinen vor Freude leuchtend rot glühen, und wo die Träume so schön sind wie an keinem anderen Ort. Wir befinden uns in Sonneberg - allein dieser Name! - am Südrand des Thüringer Waldes. Auf den ersten Blick eine Stadt wie jede andere - mit hübschen und hässlichen Ecken, mit heimatverbundenen und hektischen Menschen. Aber hinter vielen Fassaden, da geschieht eben, was dem Ort das Besondere verleiht. Da schlüpfen Teddy-Bären in ihr zottliges Fell, lassen sich Puppen feines Rouge auftragen, da schnauft die historische Lok den Berg rauf. Alltag in der “Spielzeug-Stadt” Sonneberg. Heute wie vor hundert Jahren.
Hätte Rainer Martin nur ein bisschen von der Ruhe seiner Teddy-Bären! Doch der 39jährige gleicht eher einem Stehauf-Männchen. In seinem Kopf schlagen die Ideen Purzelbäume, bei der Umsetzung möchte eine schneller sein als die andere. “Nee”, sagt er spontan und voller Überzeugung und mal wieder auf dem Sprung, “nee, Resignation gibt es nicht.” Wieselflink holt er einen Plan hervor und präsentiert seine Vision: eine Spielzeugstraße von Nürnberg nach Eisenach. 220 Kilometer unter dem Motto “Spielzeug verbindet… Regionen”. Oder anders: “Wir wollen wieder mitreden auf dem Weltmarkt.” Wir: Thüringen. Wir: die Stadt Sonneberg. Wir: der quirlige Herr Martin.
Was das wunderschöne Spielzeug-Museum in der Beethovenstraße so eindrucksvoll präsentiert (und trotz seiner 50’000 Exponate doch nur annähernd wiedergeben kann), ist längst Geschichte: In der Mitte des vergangenen Jahrhunderts entwickelte sich Sonneberg zum Weltzentrum der Spielwaren-Produktion. Und noch um die Jahrhundertwende waren 35’000 Menschen aus der Region in der Branche beschäftigt - überwiegend als Heimarbeiter. 40 Prozent der deutschen und 25 Prozent der Welt-Gesamt-Produktion an Spielzeug kamen aus der Kleinstadt. In barer Münze ausgedrückt: 1900 wurde im Raum Sonneberg Spielzeug für 20,9 Millionen Mark hergestellt, zwölf Jahre später waren es gar 45 Millionen.
Reich wurden bei diesem Geschäft freilich nur wenige. Am ehesten die, die selbst kaum Hand anlegten. Jenen, die in ihren kleinen, dunklen Häusern von früh bis in den späten Abend hart schufteten, blieb gerade genug Geld, um überleben zu können. Und das auch nur, weil sogar die Kinder früh in das Arbeitsleben einbezogen wurden.
Es waren vor allem Puppen, die in Sonneberg “geboren” wurden. Während sich die “Verleger” um den Absatz kümmerten - schon im eigenen Interesse -, lieferten die Heimarbeiter auf Bestellung zu: Puppenfriseure, Stimmenmacher, Puppenmaler, Augeneinsetzer, Näherinnen, Drechsler und Drücker… Sie alle profitierten von einer Methode der (Massen-)Fertigung, die über Frankreich und die Schweiz nach Thüringen gekommen war: Papiermaché. Eine nach besonderem “Rezept” hergestellte Papiermasse wurde in Formen “gedrückt” (daher die Bezeichnung “Drücker”). Die so entstandenen Teile wurden herausgenommen, etwa 24 Stunden lang getrocknet und anschließend geglättet. Vorteil der neuen - geradezu revolutionären - Methode: Man konnte auf Masse machen. Die Puppen wurden preisgünstiger. Der Lohn freilich passte sich schnell an. Eine Wertsteigerung erzielten die Puppen durch Porzellanköpfe. Um 1830 entstanden in Sonneberg erste Porzellanfabriken, in denen hauptsächlich Puppenköpfe - aber auch Gliedmaßen - gegossen wurden. Für die meisten Zulieferer - wie Näherinnen oder Malerinnen - änderte sich damit nichts.
Spielzeug als ein Stück Sozialgeschichte
Sonneberg war - und ist - allerdings mehr als eine Puppenstadt. Spielzeug aus Plüsch und Holz, Dampfmaschinen und nicht zuletzt die weltbekannten Piko-Eisenbahnen ließen Kinderherzen - und keineswegs nur die - höher schlagen. Wer heute durch das Spielzeugmuseum geht, wird nicht allein ein Spiegelbild der Spielwaren-Produktion sehen und erleben. Die Exponate sind auch ein Stück Sozialgeschichte. Die Bäuerin beispielsweise, deren verhärmtes Gesicht körperlich schwere Arbeit verrät. Oder der Turner aus dem Olympiajahr 1936 - ein “deutscher Mann”, wie er damals gewünscht war: blond, blaue Augen, siegessicher. Auf der riesigen Modelleisenbahn-Anlage fehlt neben romantischen Fachwerkhäusern auch die Siedlung im sozialistischen Plattenbau nicht. Und selbst die Herstellung von Puppen in Heimarbeit wird durch Puppen dargestellt. Gespielte Realität.
“Setzt euch für den Erhalt unserer Spielwaren-Betriebe ein”, mahnt ein Spruchband am Ausgang des Museums. Kein Rückblick, sondern Gegenwart. Längst hat das Zittern um die Arbeitsplätze begonnen. Das “Spiel” der Zeit. Und es ist nicht immer ein vergnügliches.
Rainer Martin glaubt seine Zukunft gefunden zu haben: Er setzt auf Tradition - auf familiäre und handwerkliche. Sie hatte 1924 mit Urgroßvater Albin und dessen Fabrik für Stoff- und Plüschspielwaren begonnen. Vor allem die Geschäfte mit Amerika und England liefen blendend. Großvater Christian schlitterte später knapp am Konkurs vorbei. Vater Horst schließlich musste sich dem System beugen: Verstaatlichung zum “Volkseigenen Betrieb” (VEB). Mit diesem Privatbesitz wurde auch die Motivation genommen. Rainer Martin, die vierte Generation in der Spielzeug-Branche seiner Familie, spricht heute von einer “unrühmlichen DDR-Zeit”. Die trug ein Einheitsbild: Massenproduktion in “Plaste” - vor allem den für Absatzmarkt Sowjetunion.”Wer mehr wollte, wurde als Kapitalist beschimpft.” Der studierte Spielzeugform-Gestalter zögerte nach der Wende nicht lange, die Firma seines Vaters wurde reprivatisiert. Eine neue Spiel(e)-Zeit.
Traditions-Teddys für Bären-Sammler
Traditions-Teddybären sind ein Standbein der Martins. Bären, die ganz schön alt aussehen. Die das typische Gesicht und den Körperbau der 20er und 30er Jahre bewahrt haben. Handgestopft mit spezieller Holzwolle - prall bis zum Platzen. Treue Kameraden für Kinder, gesuchte Typen für erwachsene Bären-Sammler. “Verrückte Sammler bringen den Aufschwung”, sagt Rainer Martin. Sein Schmunzeln ist weder negativ noch abwertend zu deuten, spricht eher für gesundes Selbstbewusstsein. Geschäftsmännisch steigert der 39jährige den Wert (und Preis) seiner Produkte durch limitierte Auflagen zwischen 500 und 1000 Exemplaren. Und er fügt Originalität hinzu. Da ist zum Beispiel Albin, nach dem Urgroßvater benannt, der seine Nase ein bisschen höher trägt und Stolz signalisiert. Christian dagegen fällt durch kürzere Arme und Beine auf. “Das ist mein Inflationsbär.” Als in schlechten Zeiten das Material fehlte, musste eben gespart werden… Doch lieber kurze Arme als gar kein Teddy.
Es geht nicht allein um die Kosten, wenn Rainer Martin viel in Heimarbeit produzieren lässt. Seine Philosophie: “Der Teddybär hat eine Seele, der darf nicht unter Druck gefertigt werden.” Folge: “Wer zu Hause arbeitet, spürt weniger Leistungsdruck.”
Doch auch seine “Firma” trägt durchaus familiäre Züge. Gearbeitet wird auf mehreren Etagen und in kleinen Räumen mit Blick auf die Fußgängerzone der Stadt. Einschließlich seiner Mutter und Ehefrau Anita sowie der Heimarbeiter zählt Martins Betrieb acht Personen. “Gleichberechtigt” neben den Teddybären gelten Puppen als Aushängeschild. Auch da setzt Rainer Martin auf Außergewöhnliches. Nach eigenen Angaben ist er der einzige Puppen-Macher in Deutschland, der nach traditionellen Papiermaché-Methode arbeitet. “Nicht Pappmaché”, sagt er, möglichen Missverständnissen vorbeugend, und unterstreicht seine Worte mit Streicheleinheiten für ein Puppengesicht: “Total fein anzufassen. Eben gegossen und nicht gebrannt.” Kleine Teile - Arme oder Beine - werden auch heute noch “gedrückt”, Köpfe und Körper werden dagegen gegossen. Die Zusammensetzung der jeweiligen Masse nennt Rainer Martin “sein größtes Geheimnis”, für dessen Preisgebung ihm bereits “Unsummen” geboten worden seien. Er sieht’s anders: Schweigen ist sein Kapital.
Mit dem Musterkoffer hausieren gegangen
Wenn’s dagegen um Erfolg und Perspektiven geht, sprudelt der 39jährige nur so. “Früher haben sie über mich gelacht auf den Börsen, heute nehm’ ich kein Stück mehr mit nach Hause.” Oder: “Früher bin ich mit dem Musterkoffer hausieren gegangen, heute kommen die Interessenten zu mir.” Das hat Mut gemacht. Um- und Ausbauen möchte er - mit Café und Schau-Werkstatt. Schon kommt wieder die Angst, nicht so schnell zu sein wie die vielen Ideen. Und plötzlich rutscht Rainer Martin ganz unruhig auf seinem Stuhl herum...